Stallmeister und Wurmsegen
Eine kleine Geschichte der Tiermedizin im Mittelalter
Ruth M. Hirschberg
Berlin 2011; aktualisiert: Januar 2012
In der heutigen Tiermedizin ist es oft ein Kostenfaktor, welche Methoden
und Therapien angewendet werden. Sind die tierischen Patienten ‚wertvoll’ genug
– entweder im kommerziellen (Zuchttiere, Rennpferde, seltene Arten etc.) oder
aber im ideellen Sinne (Heimtiere) – dann kommt auch modernste Technik zum Einsatz,
die der Menschenheilkunde was die apparitive Ausstattung zur Diagnostik und
Therapie angeht kaum nachsteht.
Ähnlich war es auch schon in der Antike und im Mittelalter – hier widmeten
sich die Tierärzte vor allen den wertvollen und Status-trächtigen
Tierarten der oberen Stände, während die Nutztiere eher durch die
betreuenden Hirten oder Dorfheilkundigen nach tradierten Methoden behandelt
wurden. Oft wurden Mensch und Tier sogar vom gleichen Heiler und nach den gleichen
Methoden kuriert.
Mittelalterliche Persiflage auf die Heilkunde: ein Affe als Arzt am Bett
eines erkrankten Tieres bei der Harnschau.
Drôlerie im Macclesfield-Psalter (Cambridge, Fitzwilliam Museum, MS 1-2005),
England um 1340, folio 22r
Quellen
Wie in der Humanmedizin gab es im Mittelalter eine breite Spannbreite medizinischen Wissens und Handelns: von auf der damals etablierten sogenannten Säfte-Lehre basierenden Diagnose- und Therapie-Verfahren bis hin zu heute sehr abergläubisch anmutenden Rezepten und Riten ist mehr oder weniger alles vertreten. Sich ein umfassendes Bild über den Stand der Tierheilkunde im Mittelalter zu machen ist sehr schwierig, weil nur wenige explizit veterinärmedizinische Quellen dazu erhalten sind. Hierzu gehören vor allem Schriften, die sich mit Haltung, Aufzucht, und Pflege von wertvollen Tieren der höfischen Gesellschaft befassen, also Pferden, Beizvögeln und Jagdhunden. Weiteres Wissen zu tierhalterischen Eingriffen und Behandlungsmethoden bei Nutztieren, die wir heute in das tierheilkundliche Spektrum miteinbeziehen würden – wie Kastration, Kriterien für Zuchtauswahl, Empfehlungen zur Zucht etc., aber auch Begutachtung von tierischen Produkten zum menschlichen Verzehr -, erschließen sich vor allem aus einer Vielzahl anderer Quellen und müssen hier sorgsam zusammen getragen werden. Dazu kann man alle zeitgenössische ‚Landwirtschaftsliteratur’ zählen, wie zum Beispiel die Landverordnung Karls des Großen (um 812 n. Chr.) oder das landwirtschaftliche Werk Walter de Henleys über die Tierhaltung (um 1280). Auch die im Mittelalter sehr beliebten Bestiarien oder auch die Gesundheitsbücher (z. B. die ‚Physica’ der Hildegard von Bingen oder das ‚Tacuinum sanitatis in medicina’) liefern wertvolle Hinweise über Tierhaltung und die verschiedensten tierheilkundliche Aspekte.
Kombinierte Darstellung einer Schafschlachtung und eines Metzgergeschäftes.
Gesundheitsbuch, Text 11. Jh., illustrierte Formen v.a. 14. Jh.
Tacuinum sanitatis, Wien Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vindob.
S.N. 2644, fol. 72v, Oberitalien um 1390
Über Wissen und Praxis der ‚laienhaften’ Tiermedizin, wie sie zum Beispiel von Hirten praktiziert wurde, informieren die mittelalterlichen Weistümer (ländliche Rechtsvorschriften) sowie entsprechende überwiegend aus der frühen Neuzeit erhaltenen, aber auf mittelalterlichen Erkenntnissen beruhenden sogenannten Hausbücher. Die Lebendtier- und die Fleischbeschau lag ab dem 13. Jahrhundert in den Händen der Metzger- und Fleischhauerzünften. Hier ging es vor allem um die Qualitätsbewertung der tierischen Produkte. ‚Untaugliche’, also erkrankte Tiere wurden allerdings trotzdem geschlachtet und deren Fleisch billig an sozial schwache Schichten verkauft, so dass im Mittelalter nicht von einer echten lebensmittelhygienischen Überwachung gesprochen werden kann.
Säftelehre und antike Tiermedizin
Genau wie die mittelalterliche Humanmedizin basierte auch die Tiermedizin auf der sogenannten Säftelehre, oder Humoraltheorie, die in der Antike von berühmten Ärzten und Naturforschern wie Hippokrates (460 – 370 v. Chr.) und Galen (129 – 199/216 n. Chr.) entwickelt worden war. Hiernach wurden den vier Elementen (Feuer, Erde, Luft und Wasser) die vier Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle) sowie vier bestimmte Eigenschaften (heiß, kalt, feucht und trocken) zugeordnet. Bei Gesundheit sollte nach dieser Theorie im Körper ein ausgewogenes Verhältnis der vier Säfte mit den zugeordneten Elementen und Eigenschaften herrschen; sobald ein Saft mit seinen jeweiligen Eigenschaften überwiegt, kommt es zu entsprechenden Krankheitssymptomen. Jeglichen Nahrungsmitteln, die Mensch oder Tier zu sich nahmen, wurden ebenfalls entsprechende Eigenschaften zugeordnet, so dass die Diätetik einen hohen Stellenwert in der mittelalterlichen Medizin einnahmen. Der Übergang von diätetischer zu therapeutischer Bedeutung von Nahrungs- und/oder Heilmitteln war daher oft fließend. Bestimmte Mängel oder Leiden sollten so durch passende, ausgleichende Nahrungs-/Heilmittel kompensiert werden. Die Körpereigenschaften konnten auch von außen zum Beispiel durch aufgelegte warme oder kalte Wickel und Kompressen, evtl. bestrichen mit Heilmitteln passender Eigenschaften beeinflusst werden. Bei Fieber (Feuer, heiß) wurden dem Patienten entsprechend äußerlich und innerlich kühlende Flüssigkeiten gereicht – ein Prinzip, das bis heute nachvollziehbar ist. Zum Ausgleich einer Unverhältnismäßigkeit der vier verschiedenen Körpersäfte wurde auch vom Aderlass (Phlebotomie) Gebrauch gemacht. Die Aderlassstelle sollte dabei möglichst nahe am jeweils erkrankten Körperteil liegen. Auch das Brennen (Kauterisieren) erkrankter Körperteile hat seine Grundlage in der Humoraltheorie, hierdurch sollte durch aufgelegte heiße eiserne oder kupferne Brenninstrumente die Haut über der betroffenen Stelle ‚gekocht’ werden, die wohltätige Wirkung dieses so aufgebrachten ‚Feuers’ sollte das Leiden ausreifen und die ungesunden Säfte sollten dann durch die entstehende Wunde austreten. In abgeschwächter Form wurde diese Therapieform auch mit auf die Haut aufgebrachten stark reizenden Substanzen (wie ätherischen Ölen) ausgeführt. Sowohl Aderlass als auch Brenneisen wurden in der Tiermedizin noch weit bis in die Neuzeit bei vielfältigen Erkrankungen angewendet.
Ein wichtiger tierheilkundlicher Schriftsteller der Antike ist Vegetius
(5. Jh. n. Chr.), der neben seinen bekannten kriegstheoretischen Schriften auch
ein Werk über Tierheilkunde und vor allem über die Pferdeheilkunde
hinterlassen hat. In der Antike war vor allem die Pferdeheilkunde und hier insbesondere
die Behandlung der wertvollen Maultiere wichtig – daher befasst sich die antike
tierheilkundliche Literatur überwiegend mit diesem Thema, der Tierarzt
war der mulomedicus (mulus = Maultier) oder veterinarius (abgeleitet
vom keltischen Wortstamm für Vieh). Bei den Römern gab es neben den
praktischen Tierärzten wohl eigene Rossärzte im Dienste der Armee:
um 100 n. Chr. wurde ein eigenes veterinarium (eine Art Pferdeklinik)
für kranke und verwundete Armeepferde gegründet. Stellung, Ansehen
und Verdienst der römischen Tierärzte scheint jedoch nach einer Angabe
Vegetius eher gering gewesen zu sein. Viele wichtige Pferde- und Viehkrankheiten
waren bereits in der Antike bekannt, teils wusste man ggf. auch schon um deren
infektiösen Charakter: Rotz (eine bakterielle Krankheit vor allem der Atemwege
und der Haut, die vor allem Pferde aber auch viele andere Säugetiere und
den Menschen befällt), Dämpfigkeit, schwarze Harnwinde (heute: Lumbago
oder Kreuzverschlag), Koliken und Wurmerkrankungen des Pferdes; Tollwut der
Hunde; Milzbrand, Tympanie (Aufblähen)und Blutharnen des Rindes, Räude
etc.
Die Lehren der antiken tierheilkundlichen Werke aus dem oströmischen bzw.
byzantinischen und weströmischen Raum wurden während des Mittelalters
über Abschriften und Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen
erhalten. Die meisten mittelalterlichen tierärztlichen Schriften beziehen
sich auf diese antiken Werke.
Arabische Tiermedizin
Die politischen und kulturellen Wirren, die die Völkerwanderung und der Untergang des weströmischen Reiches verursacht hatten, legten zunächst jede Beschäftigung mit der Wissenschaft, und damit auch der Medizin, lahm. Neben dem ehemals oströmischen Byzanz/Konstantinopel übernahmen im frühen Mittelalter ab dem 8. Jahrhundert auch die Araber die Erhaltung und Bewahrung des antiken Wissens. Die antiken griechischen und römischen Schriften wurden zusammengetragen und ins Arabische übersetzt und führte circa ab dem 9. Jahrhundert zur Abfassung medizinischer Kompendien. Besonders relevant sind hier die Schriften Avicennas/Ibn Sinas (980 – 1073), dessen Systematisierung und umfassende Darstellung des damaligen medizinischen Wissens während des Mittelalters wiederum für das Abendland große Bedeutung erlangte. Die arabischen tierheilkundlichen Schriften befassen sich überwiegend mit Pferdemedizin – verständlich in einer Kultur, die sich besonders mit Pferdezucht befasste. Die Pferdeheilkunde war al-baitrara, der Pferdearzt der baitar, was sich vom griechischen hippiatros ableiten lässt. Eine besondere Errungenschaft der arabischen Medizin ist die Augeheilkunde (Ophthalmologie) und so verwundert es nicht, dass auch in der Tierheilkunde die Augenheilkunde besonders beschrieben wurde. Neben pferdeheilkundlichen Schriften entstanden auch Werke über die Krankheiten des Rindes, Schafes und der Kamele. Das sogenannte Nasirische Buch des Ibn al-Mundir (1309 – 1340), eine auf griechischen Lehren basierende Pferdeheilkunde, überträgt den Eid des Hippokrates auf tierärztliche Verhältnisse: u. a. verpflichtet er die Tierärzte, armen Patientenbesitzern kein Entgelt abzuverlangen und mahnt sie, unheilbar erkrankte Tier gar nicht erst zu medizinieren.
Darstellung der Anatomie des Pferdes aus einer anonymen arabischen Handschrift
des 15. Jahrhunderts.
Universitätsbibliothek Istanbul, A.Y. 44689, Folio 21, aus: van den Driesch
und Peters.
Rinderdarstellung aus einer arabischen Schrift um 1300
über die medizinischen Eigenschaften der verschiedenen Ausscheidungen und
Organe der Tiere.
Cliché Bibliothèque National de France, Paris, MS Arabe 2782,
folio 6v, aus: van den Driesch und Peters.
Abendländische Tiermedizin
Gleichzeitig mit der wissenschaftlichen arabischen Medizin entwickelte
sich im Abendland die eng mit der christlichen Tradition verknüpfte sogenannte
Klostermedizin, zu deren bekanntesten Vertretern sicherlich Hildegard
von Bingen (1098 – 1179) gehört. In ihren im 12. Jahrhundert entstandenen
Schriften ‚Physica’ und ‚Causae et curae’ nennt sie auch Viehsuchen (bei ihr
schelmo genannt), für deren Ursachen sie teilweise Fabelwesen
wie den Basilisken benennt. Ihre Therapien sind überwiegend pflanzlicher
Natur, sie nennt aber auch einige Heilmittel tierischer Herkunft: so soll pulverisiertes
Wisenthorn in der Tränke das erkrankte Vieh heilen, oder auch Luchsblut
in Wasser gemischt. Rinder, die von schädlichem Blut oder von harter Arbeit
erkrankt sind, erhalten pulverisierte Strandmuscheln im Tränkwasser. Neu
an der Heilkunde Hildegards ist vor allem, dass sie viele Nahrungsmittel tierischer
Herkunft, insbesondere Milchprodukte, sowie bestimmte Fellarten gezielt als
Heil- oder Stärkungsmittel für Menschen empfiehlt bzw. von deren Gebrauch
abrät. Hierin könnte man bereits erste Anfänge einer Art Lebensmittelhygiene
sehen.
Vor allem die Medizinschule von Salerno übernahm die Rolle, das im Orient
erhaltene Wissen mit dem des Okzidents zu vereinen. Eine besondere Blütezeit
erlebte die abendländische Wissenschaft dann am Hofe des Stauferkönigs
Friedrich II (1198-1250), der selber Naturforschung betrieb
und entsprechende Gelehrte an seinen Hof zog. Zusammen mit der Naturforschung
erlebte dann auch die Tierheilkunde hier eine große Blütezeit. Neben
der Verfassung seines berühmten Vogelbuches ‚De arte venandi cum avibus’
(Von der Kunst, mit Vögeln zu jagen) wirkte Friedrich als Mäzen für
verschiedene weitere tierkundliche bzw. heilkundliche Werke zur Haltung und
Pflege von Jagdhunden und Beizvögeln sowie mehrere pferdeheilkundliche
Werke, die bis in die Neuzeit Grundlage der abendländischen Tiermedizin
blieben.
Das Pferd erhält bei Aufblähung einen Einlauf aus dem Saft
wilder Gurkenwurzeln, Wein, Öl und Sodasalz.
Mittelalterliche Kopie einer antiken pferdeheilkundlichen Handschrift.
Cliché Bibliothèque National de France, Paris, Ms grec 2244, Byzanz,
Folio 52r, aus: van den Driesch und Peters.
Tierärztliche Instumentarien aus einer illustrierten Handschrift der
Pferdeheilkunde des Johan Alvares de Salamiellas.
Dargestellt werden u. a. Lanzetten, arabische Wirkmesser, Brenneisen und Aderlassfliete.
Von den Driesch, Peters: Geschichte der Tiermedizin.
Stallmeister, Rossarzneibücher und ‚Fehlerpferde’
Wie in der Antike und im arabischen Kulturkreis spielte das Pferd auch
im Abendland eine wichtige Rolle, insbesondere für die Etablierung der
Kavallerie, die erst den Erfolg der abendländischen Ritterheer ausmachte.
Dass Qualität und Quantität des zur Verfügung stehenden Pferdematerials
hier sehr wichtig waren, zeigt sich daran, dass bereits bei den Merowingern
und Karolingern der sogenannte Marschall oder Marstaller (marescalcus
oder comes stabuli) in die vier obersten Hofämter aufgenommen
wurde – er war als offizieller Stallmeister für Pferdezucht und die Versorgung
der höfischen Trosses zuständig. Der Marschall war für die königlichen
Pferde zuständig und hatte bei Reisen und auf Kriegszügen für
Unterbringung und Pflege der herrschaftlichen Pferde zu sorgen. Dafür waren
ihm Pferdeknechte und später auch Hufschmiede unterstellt. Neben der Pferdezucht
war auch die Pflege der kostbaren Tiere wichtig - Erkrankungen der Pferde konnten
kriegsentscheidend sein. Zeitgenössische Quellen berichten, dass bei den
Kämpfen der Franken gegen die Awaren eine Pferdeseuche den Bestand der
einsatztauglichen Tiere empfindlich dezimierte (bis 90 %)– nach den Beschreibungen
handelte es sich vermutlich um Druse, eine bakterielle Erkrankung der oberen
Atemwege.
Ein für die Tierheilkunde sehr bedeutender Stallmeister war Jordanus
Ruffus, der am Hofe Kaiser Friedrichs II arbeitete und kurz nach dessen
Tod ein Buch über Pferdehaltung und Pferdeheilkunde veröffentlichte.
Von 64 Kapiteln widmen sich 33 den Leiden des Bewegungsapparates und er führt
den Hufbeschlag in die Tierheilkunde ein. Sein Werk steht noch ganz in der Tradition
der antiken Säftelehre; viele Therapien beinhalten Aderlass, Kataplasmen
(feucht-warme Körperumschläge), Kauterisieren etc. Das Erscheinungsjahr
von Ruffus Pferdeheilkunde wird bezüglich der Geschichte der Tierheilkunde
als Beginn der Epoche der sogenannten Stallmeisterzeit angesehen.
Am Hofe Friedrichs in Neapel wirkte noch ein weiterer Pferdeheilkundiger,
nämlich Meister Albrant. Er war wahrscheinlich Schmied
und verfasste ein sehr knappes pferdeheilkundliches Werk in deutscher Sprache,
das vermutlich als Kompendium gedacht war. Im Unterschied zur Pferdeheilkunde
des Ruffus ist es in sehr einfacher Sprache verfasst und nennt überwiegend
pflanzliche Heilmittel, allerdings ohne Mengenangaben. Die Beschreibungen der
Krankheiten sind sehr knapp verfasst. Allerdings ist es schon überwiegend
frei von Zaubersprüchen und anderen magischen Elementen der Volksmedizin,
vermutlich bedingt durch die am Hofe Friedrichs bedingte Geisteshaltung. Diese
Albrant-Handschrift wurde bis in die Neuzeit vielfach – fatalerweise oft fehlerhaft
- kopiert und ergänzt. Bis in das 18. Jahrhundert hinein wurde das Rossarzneibüchlein
vervielfältigt und ergänzt und gewann so eine überragende Bedeutung
für die praktische Pferdeheilkunde im deutschsprachigen Raum. Ein Beispiel
zeigt den Stil des Buches: „Welches Roß ein sieches Haupt hat oder
das gestört oder fast von Siechtum krank ist, der nehme Rettich, wohl gedörrt,
und Zitwer zu gleichen Teilen und mache es zu Pulver und mische das mit Wein
und gieße es dem Roß in den Hals. Und halt ihm die Nasenlöcher
zu, bis es zu tränen beginnt. Und tue das so oft, bis ihm der Eiter vollends
herausläuft. Und wenn die Nasenlöcher nicht mehr rinnen, so ist es
gesund.“
Aus dem 13. Jahrhundert ist ein illustriertes Ruffus-Manuskript erhalten, aus
dem viele heilkundliche Details erkennbar sind. So waren Zwangsmaßnahmen
wie Lippenbremse, Maulgatter und Spannstricke bekannt, auch Hängevorrichtungen,
z. B. bei schwerwiegenden Huferkrankungen, werden beschrieben (siehe folgende
Abbildungen).
Eine Abbildung aus einer Ruffus-Handschrift des 13. Jahrhunderts zeigt Hängevorrichtungen
bei Huferkrankungen (oben), die Behandlung des Hautrotzes mit Ausbrennen und
Ansätzen von Blutegeln (Mitte) sowie die Behandlung der Zunge mit Einsatz
eines Maulgatters.
Bildquelle: illustrierte Ruffus-Handschrift, Codex 78 C 15, Staatliche Museen
zu Berlin, fol.45 r (oben), 10r (Mitte), 22 v (unten), aus: van den Driesch
und Peters.
Eine Abbildung aus einer Ruffus-Handschrift des 13. Jahrhunderts zeigt das
Anlegen eines Pechverbands bei Kreuzverschlag (oben), Anlegen eines heißen
Kleieverbandes (Mitte) sowie die chirurgische Behandlung einer Huferkrankung.
Bildquelle: illustrierte Ruffus-Handschrift, Codex 78 C 15, Staatliche Museen
zu Berlin, fol.26 r (oben), 35r (Mitte), 39r (unten), aus: van den Driesch und
Peters.
Aus dem 13. Jahrhundert stammt auch die ‚Mulomedicina’ (Maultiermedizin) des Theoderich von Cervia, wiederum basierend auf der Ruffus-Handschrift. Dieser war Arzt und Tierarzt in Bologna und stellte mit einer Sondererlaubnis des Papstes Pferde für chirurgische Eingriffe schon mit Bilsenkrautsamen ruhig. Ein bedeutender südfranzösischer Stallmeister, Johan Alvares de Salamiellas, verfasste zwischen 1340 und 1360 ein pferdeheilkundliches Werk in spanischer Sprache, das uns ebenfalls illustriert erhalten ist und neben den Zwangsmaßnahmen auch eine Vielzahl von tierärztlichen Instrumentarien darstellt (siehe oben).
Die Miniatur aus einer illustrierten pferdeheilkundlichen Handschrift des
Johan Alvares de Salamiellas aus dem 14. Jh. zeigt die Behandlung eines Bruchs
des Röhrbeins, welches geschient und mit Werg umwickelt fixiert wird.
Bemerkenswert ist auch die Aufhängevorrichtung, mit der das verletzte Bein
geschont werden soll.
Cliché Bibliothèque National de France, Paris, Ms espagnol 214,
Kap. 11, aus: van den Driesch und Peters.
Behandlung einer Schleimbeutelentzündung am Handgelenk
des Pferdes. Der Tierarzt öffnet die Schwellung mit einer Lanze, lässt
die Flüssigkeit ablaufen und streut Grünspan in die Wunde.
Während der Behandlung ist das Tier mit Spannstricken an allen vier Gliedmaßen
sowie Nasenbremse an Abwehrbewegungen gehindert.
Illustrierte pferdeheilkundliche Handschrift des Johan Alvares de Salamiellas
aus dem 14. Jh.
Cliché Bibliothèque National de France, Paris, Ms espagnol 214,
Kap. 35 , aus: van den Driesch und Peters.
Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wurde in
Spanien vom König eine Prüfungskommission für Ärzte, Chirurgen,
Apotheker und Tierärzte eingesetzt, die als staatliche Kommission für
Praktiker wie Tierärzte und Hufschiede das Absolvieren einer Prüfung
vor Ausübung des Berufes verlangte. Dieses ‚Tribunal del Protoalbeiterato’
bewirkte, dass Literatur zur den Examensfragen zusammengestellt wurde, zum Beispiel
das ‚Libro de albeyteria’ (Buch der Tiermedizin) des Tierarztes Francisco
de la Reyna (1520 – 1583). In Spanien wurden danach Tierärzte als
Sachverständige beim Kauf und Verkauf von Pferden herangezogen, und nur
die Tierärzte, nicht die Schmiede, durften kranke Tiere behandeln; es entstand
sogar schon eine erste Gebührenordnung für Tierärzte.
Die Erfindung des Buchdrucks (um 1450) bewirkte eine weite Verbreitung der tierheilkundlichen
Werke der Stallmeisterzeit. Als ‚Gipfel’ der Sammlung aller pferdeheilkundlichen
Werke der Antike und des Mittelalters gilt das Werk ‚La gloria del cavallo’
von Pasquale Caracciolo, datiert auf ca. 1566. Wie in
der Humanmedizin wurde es dann auch üblich, die Krankheiten der Pferde
in Form von sogenannten ‚Fehler- oder Wundenpferden’ zu illustrieren.
So genanntes ‚Wundenpferd’ aus einem Rossarzneibuch des 17. Jahrhunderts.
Diese Darstellungsform wurde der Humanmedizin entlehnt und entspricht dem ‚Wundenmann’.
Hier werden die Verletzungsmöglichkeiten der Pferde zusammengefasst. Üblich
waren auch Darstellungen von ‚Fehlerpferden’ mit verschiedenen Mängeln
und Krankheitssymptomen.
Von den Driesch, Peters: Geschichte der Tiermedizin. Rossarzneihandschrift
des Johannes Carlyburger, 1683.
Höfische Jagdhelfer: Falke und Hund
Die tierischen Jagdhelfer, insbesondere Beizvögel und Jagdhunde,
besetzten in der höfischen Kultur einen hohen Stellenwert und waren dementsprechend
wertvoll.
Die Literatur über Beizvögel, deren
Abrichtung und Krankheitsbehandlung ist recht alt und datiert in das Frühmittelalter
(6./7. Jh.); die erhaltenen Schriften stammen vor allem aus dem arabisch-persischen
Raum und gingen über lateinische Übersetzungen im Hochmittelalter
in den abendländischen Raum ein. Besonders hervorzuheben sind hier eine
anonyme sogenannte ‚Ältere deutsche Habichtslehre’, das schon
erwähnte Vogelbuch des Staufers Friedrich II sowie die Werke eines arabischen
Falkners an seinem Hof namens Moamin, Der ebenfalls bereits erwähnte
Bischof von Cervia verfasste im 13. Jahrhundert ebenfalls ein Falkenbuch.
Auch die mittelalterliche Falkenheilkunde bleibt den Traditionen der Säftelehre
verhaftet und beinhaltet ebenso magische und abergläubische Komponenten,
so z. B. die so genannte Schlangenregel, nach der das Verfüttern einer
Schlange die Mauer der Beizvögel verbessern sollte. Aus den erhaltenen
Handschriften ist es oft schwierig, heute auf bestimmte Greifvogelkrankheiten
zu schließen; sicher war auf jeden Fall die Gicht der Vögel bereits
bekannt. Besonders weit entwickelt war die Falkenheilkunde auf dem Gebiet der
Chirurgie, während der Einsatz der meisten Heilmittel aus heutiger Sicht
eher willkürlich und unwirksam erscheint.
Die kostbaren Jagdhunde unterstanden
in der Regel den Jägern, am Hofe dem Jagdmeister, und so stammen die meisten
hundeheilkundlichen Werke aus der mittelalterlichern Jagdliteratur. Meist wurden
darin Beizvögel, Jagdhunde und Pferde zusammen abgehandelt, so auch in
den vielfältigen mittelalterlichen Übersetzungen und Kopien der Werke
(De animalibus – über die Tiere) des Albertus Magnus (um 1200
– 1280). Auch das Falkenbuch des bereits erwähnten Moamin, Falkner auf
Hofe Friedrichs, enthält einen hundeheilkundlichen Anteil. Das vierbändige
Werk Moamins wurde durch den ebenfalls am Hofe Friedrichs als Naturforscher
und Arzt tätigen Meister Theodor ins Lateinische übersetzt. Im 13.
bis 15. Jahrhundert schließen sich dann mehrere Jagdbücher an, die
auch über die Krankheiten und Pflege der (Jagd-)Hunde berichten. Am bekanntesten
ist vielleicht das ‚Livre de la chasse’ (Jagdbuch) des Gaston Phoebus
(1331 - 1391). Die Jagdbücher erläutern Angaben zur Aufzucht und Ernährung
der Hunde sowie zur Vermeidung und Heilung ihrer Krankheiten.
An Hundekrankheiten wird zuallererst die Tollwut
genannt. Die Verbindung zwischen der Tollwut der Tiere, besonders des Hundes
und des Wolfes, und der des Menschen war schon in der Antike bekannt. Im 1.
Jahrhundert v. Chr. wurde die Krankheit von Aulus Cornelius Celsus nach einer
Bissverletzung beschrieben. Sein Therapievorschlag - den Patienten in Wasser
zu tauchen - mutet eigentümlich an, doch die von ihm beschriebenen Präventivmaßnahmen
weniger: das Gewebe rund um die Bissverletzung herauszuschneiden und die Wunde
mit einem heißen Eisen zu kauterisieren. Aus dem Mittelalter existiert
ebenfalls eine Beschreibung der Krankheit, und zwar von Abdallah ibn al-Fadl
aus Bagdhad (13. Jh.). 1546 lieferte der Italiener Girolamo Fracastoro eine
klassische Beschreibung der Krankheit. Als Therapeutika verwendete man Knoblauch,
Raute, Einbeere, Maiwurmsekret, Koriander und die Hunds-Schildflechte, die dafür
mit Milch und Pfeffer zubereitet wurde. Außerdem werden verschiedene Hautkrankheiten
und Erkrankungen der Ohren beschrieben, die wohl einer parasitären oder
fremdkörperbedingten Ohrenentzündung entsprechen. Hier werden verschiedene
Ohrenbehandlungen genannt, u.a. auch das Einreiben mit ätzendem Vitriol
oder das Kauterisieren. Ein Rezept des Moamin „über die Heilung von
Wunden und Rissen der Hunde: Nehmt ein Bruchstück von einem neuen Steinguttopf,
erhitzt es im Feuer und zerstosst es zu Pulver, mischt dieses mit starkem Essig
und bedeckt dann damit die Wunden und Risse, denn das wird ihm sehr gut tun.“
Bis in die Neuzeit blieb die Gesundheit des Jagdhundes überwiegend in der
Hand von Förstern, Jägern und Hirten.
Das Bild aus dem Livre de la Chasse des Gaston Phoebus illustriert anschaulich
diverse Hundetypen sowie wichtige Pflegemaßnahmen, die das Pflegepersonal
bzw. die Hundeführer durchführen sollten (Fellpflege, Maulpflege,
Pfoten- und Krallenpflege etc.).
Bildquelle: Gaston Phoebus. Livre de la Chasse. Paris, Bibliothèque National
de France, ms. Fr. 616, fol. 40v. Burgund, 1407
Tierzüchterische Maßnahmen und Nutztiermedizin
Tierhalterische und tierzüchterische Maßnahmen wie das Anpflocken, Führen über Nasenringe, Fixieren durch Stricke z. B. beim Melken, Kastration etc. lassen sich in den illustrierten naturkundlichen Werken sowie reichlich in Monatsdarstellung der Stundenbücher und Kalendarien finden. Details zu Verarbeitung von Nutztierprodukten zu Lebensmitteln und Gebrauchsgütern belegen die im Spätmittelalter weit verbreiteten Haus- und Gesundheitsbücher.
Roter Bulle (wobei dies hier nicht eindeutig erkennbar ist - evtl. handelt
es sich auch um einen Ochsen), der am Nasenring geführt wird.
Aus einem englischen Bestiarium, 13. Jh.
Bodleian Library, Oxford, M.S. Bodley 764
Der Melkvorgang an einer dafür fixierten Mutterkuh. Aus einem englischen
Bestiarium, 13. Jh.
Bodleian Library, Oxford, M.S. Bodley 764
Eine Abbildung eines spätmittelalterlichen Gesundheitsbuches illustriert
hier alle Tiere, die zu Mastzwecken kastriert wurden.
Tacuinum sanitatis, Wien Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vindob.
S. n. 2644, Oberitalien um 1390, folio 71r
Vermutlich realistische Darstellung der mittelalterlichen Schlachterei:
Die bereits getöteten Tiere hängen zum Ausbluten aus, daneben säugt
eine Ziege ihr Lamm. Die im Umfeld deutlich erkennbaren 'Ziegenböhnchen'.,
die die Tiere unter Stress und Angst ausgeschieden haben, sprechen eine deutliche
Sprache über die 'hygienischen' Verhältnisse in der Schlachterei...
Tacuinum sanitatis, Wien Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vindob.
S.N. 2644, fol. 73r, Oberitalien um 1390
Als Beispiel für mittelalterliche Landwirtschaftsliteratur sei
der englische Walter of Henley angeführt, dessen
ca. 1275 entstandenes, auf französisch geschriebenes Buch Le Dite de
Hosebondrie das Management auf den herrschaftlichen Gütern beschreibt
und nachfolgend weite Verbreitung fand. Walter beschreibt u.a. die Milchleistung
von Schafen und Rindern und stellt fest, dass bezüglich der jährlichen
Milchmenge ca. 10 Schafe auf eine Kuh kommen. Mittelalterliche tierheilkundliche
Schriften über Rinder, Schafe und Ziegen finden sich viel seltener als
solche über die höfisch relevanten Tiere wie Pferde, Hunde und Falken.
Rinderheilkundliche ‚Anhänge’ sind manchmal jedoch den pferdeheilkundlichen
Schriften beigefügt. Über die spätmittelalterliche Nutztierheilkunde
am Anfang des 14. Jahrhunderts informiert ein enzyklopädisch angelegtes
Buch des Petrus de Crescentiis (1240 - 1320),
hier begegnet man auch erstmalig der Bezeichnung marescalci boum für den
Rinderpraktiker (heute der Buiatriker). Das 1523 erschienene ‚Boke of husbandry’
des John Fitzherbert beschreibt schon die Eröffnung
der Schädelhöhle bei Rindern (Trepanation), um die im Gehirn angesiedelten
Bandwurmblasen zu entfernen, die die sogenannte Drehkrankheit auslösen.
Über den Stand der Heilkunde beim Kleinvieh informieren v.a. die Agrarkompendien
und sogenannten Hausbücher, seltener die Rossarzneischriften. Ab dem Spätmittelalter
wird das anspruchsvollere Rasse-(Woll-)Schaf diesbezüglich interessant
und es entsteht auch Spezialliteratur zu häufigen Schafkrankheiten wie
Räude, Moderhinke oder Milzbrand. Die Schweineheilkunde war in erster Linie
Sache des Hirten und beschäftigte sich vor allem mit der Behandlung von
durch Ektoparasiten oder Verletzungen verursachten Erkrankungen. Da die Schweine
meist im Freien weideten, wurden sie nur eingeschränkt medizinisch behandelt.
Der Zisterzienserabt Ulrich von Lilienfeld (* vor 1308, † vor 1358) beschreibt in seinem Werk Concordantiae caritatis, das eigentlich in Bild und erläuterndem Text vor allem die Evangelien der einzelnen Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres und die Legenden der Heiligen des Jahreskreises mit typologischen Szenen aus dem Alten Testament erläutertt, anhand von Naturbeispielen aber ebenso auch einige tierhalterische Maßnahmen sowie einige Zusammenhänge zwischen Krankheit und Fütterung bzw. beschreibt bestimmte Nutztiererkrankungen.
Tierhalterische Maßnahmen
aus dem naturkundlichen Teil der Concordatiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld:
Links: Die Farbe einer Ader unter
der Zunge soll die Farbe der Lämmer bestimmen (29v);
rechts: Mastfütterung mit Gerste (154v).
Lilienfeld, Österreich,
Stiftsbibliothek: Codex 151, um 1350
Tierheilkundlich Relevantes aus
dem naturkundlichen Teil der Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld:
Links: Junge Schafe, die sich
überfressen, sterben
(28v); Mitte: eine Seuche befällt das Vieh (243v); rechts: Ziegen verenden
nachdem sie an Honig geleckt haben (74v).
Lilienfeld, Österreich,
Stiftsbibliothek: Codex 151, um 1350
Sauschneider, Nonnenmacher und Kapaune
Männliche Masttiere wie Eber, Widder, Ziegenböcke und Stiere
wurden zur Verbesserung der Mastleistung kastriert, wie z.B. der Landgüterverordnung
Karls des Großen oder auch den mittelalterlichen Gesundheitsbüchern
zu entnehmen ist. Großtiere wie Stier und Hengst wurden aber auch kastriert,
um ihre Handhabung leichter zu machen. Es war außerdem üblich, Hähne
zu kastrieren, die Tiere wurden dann deutlich größer und als
papo oder capo bezeichnet, woraus sich unsere Bezeichnung Kapaun
ableitet. Meist wurden den Tieren nach der Entfernung der Hoden auch die geschlechtstypischen
Spornanlagen an den Beinen sowie oft auch der Hahnenkamm entfernt. Um sie in
der Geflügelherde schon von weitem als Kapaune zu kennzeichnen, wurde eine
Spornanlage in die kleine Schnittwunde am Kamm eingepflanzt, diese wuchs oft
an und die Tiere zeigten dann ein kleines ‚Horn’ am Kopf. Ein solcher ‚Zeige-Kapaun’
wird beispielsweise im Vogelbuch Friedrichs II abgebildet, allerdings irrig
mit der Bezeichnung gallina indica (für Perlhuhn) versehen (siehe
nachfolgende Abbildung).
Für unser heutiges Verständnis weniger geläufig wurden aber durchaus
auch weibliche Tiere kastriert. Dies war besonders für die extensive Schweinehaltung
bedeutsam, um ein unkontrolliertes Bedecken der Sauen, vor allem durch Wildschweineber,
zu verhindern. Die Kastration der Nutztiere wurde von spezialisierten Landarbeitern
übernommen, die regional unterschiedlich ‚Sauschneider’ oder auch ‚Nonnenmacher’
genannt wurden (kastrierte Sauen hießen auch Nonnen).
Die Kastration der männlichen Tiere erfolgte indirekt durch Abbinden oder
Durchtrennung der Samenstränge, teils auch durch Entfernung oder Zerquetschung
der Hoden. Entsprechende Kastrationszangen (‚Kluppen’) sind schon seit der Eisenzeit
bekannt. Bei den weiblichen Tieren bedeutet die Kastration einen komplizierteren
und damit risikoreicheren Eingriff in die Bauchhöhle; ebenso beim Hahn,
dessen Hoden nicht äußerlich in einem Hodensack sondern in der Körperhöhle
liegen.
Ein Kapaun, also ein kastrierter Hahn.
Um ihn innerhalb der Geflügelherde kenntlich zu machen, wurde ihm eine
amputierte Spornanlage auf dem Kopf implantiert.
Aus dem Vogelbuch Friedrichs II. Italien, um 1260.
Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Vaticanus, Ms. Pal. Lat. 1071, um 1260,
Süditalien, fol. 19r
Volksheilkunde, Aberglauben und Rosstäuschertricks
Bis in das 20. Jahrhundert hinein hielten sich auf der Säftelehre basierende volkstierheilkundliche Maßnahmen, die als unspezifische Reiztherapie und damit auch nach heutigen Maßstäben als nicht völlig untherapeutisch gewertet werden können. Hierzu gehören die schon erwähnten Maßnahmen des Aderlasses und des Kauterisierens, aber auch das Durchtrennen und Veröden von Adern und das Skarifizieren, also das Einschneiden der Haut, um dem Gewebe Flüssigkeit zu entziehen. Daneben wurden oft reizende, scharfe, durchblutungsfördernde Substanzen aufgebracht wie Grünspan, Terpentin oder Senfblätter. Zu diesen Maßnahmen zählt auch das Haarseillegen und Eiterbandziehen: in Hautfalten über erkrankten Körperstellen wurden Seile oder Bänder mit einer Nadel eingezogen; die Wunden vereiterten und sollten so zum Abfluss ‚böser Säfte’ aus dem Körper führen.
Bei Futterrehe wird empfohlen, das Pferd an allen vier Fesseln zur Ader
zu lassen
und nachfolgend die Stellen zur Kühlung mit Essigwasser zu behandeln.
Mittelalterliche Kopie einer antiken pferdeheilkundlichen Handschrift.
Cliché Bibliothèque National de France, Paris, Ms grec 2244, Byzanz,
Folio 48vr, aus: van den Driesch und Peters.
Völlig abwegig und äußerst schmerzhaft für die
Tiere waren aber damals übliche pferdeheilkundlichen Maßnahmen wie
das ‚Mäußeln’, wobei eine Endsehne eines Muskels zur Hebung
der Oberlippe durchtrennt wurde, um Augenerkrankungen zu heilen, oder das ‚Augstallschneiden’,
bei dem das dritte Augenlid entfernt wurde. Eine tierquälerische Variante
des Aderlasses war das Aufreißen oder Einritzen der Gaumenschleimhaut,
die als ‚Kern’- oder ‚Froschstechen' bezeichnet wurde und
zum Repertoire eines „guten“ Marstallers gehörte.
Auch bei Hunden wurden aus heutiger Sicht unsinnige und brutale Therapien eingesetzt. Hunde besitzen eine anatomische Besonderheit der Zunge, nämlich ein knorpelig-bindegewebiges ‚Stützskelett’, das in die Zungenmuskulatur eingebettet ist. Diese Struktur wurde als ‚abnormale Bildung’ erkannt und als Auslöser der Tollwut, der sogenannte ‚Tollwurm’ (Lyssa) beschrieben. Aus diesem Grunde wurden den Hunden im Spätmittelalter unter schrecklichen Qualen ‚der Tollwurm gezogen’ oder aber als ‚Skrofel’ eröffnet, um ein Ausbreiten der Krankheit zu verhindern. Der Hl. Veit und der Hl. Hubertus wurden als Nothelfer bei Tollwut angerufen, und Tollwut-Opfer pilgerten zum Grab des Hl. Hubertus. Zur Therapie wurde unter anderem der sogenannte ‚Hubertusschlüssel’ angewandt: ein im Kloster St. Hubert (Ardennen, Belgien) geweihter Nagel oder Schlüssel wurde in einem Kohlepfännchen erhitzt und in die Stirn (Vorbeugung) bzw. zur Therapie in die Wunde des Bissopfers bzw. des Hundes eingebrannt.
Bis in die Neuzeit wurden auch Sprüche und Segensformeln
eingesetzt, um das Vieh gesund zu erhalten und vor Krankheiten zu schützen.
Die Zaubersprüche stammten überwiegend aus dem vorchristlichen Brauchtum
und wurden im Laufe des Mittelalters dann an christliche Glaubensgebote ‚angepasst’
Aus dem 10. Jahrhundert ist ein Zauberspruch gegen Würmer erhalten:
„Geh heraus, Wurm, mit neun Würmlein, heraus aus dem Mark in den Knochen,
aus den Knochen in das Fleisch, heraus aus dem Fleisch in die Haut, heraus aus
der Haut in diesen Strahl. Herr, es geschehe so!“
Würmer – der Begriff wurde damals sehr weit gefasst – galten als Verursacher
vieler Krankheiten, unter anderem des Strahlkrebses (Erkrankung der Sohlenfläche
des Hufs) der Pferde. Auch die sogenannten Merseburger Zaubersprüche
sollen Lahmheit und Krankheit aus den Tieren vertreiben. Dabei handelt es sich
um Beschwörungsformeln aus der Zeit vor 750, die wahrscheinlich im 10.
Jahrhundert im Kloster Fulda aufgezeichnet wurden. Ebenfalls aus dem 10. Jahrhundert
stammen erhaltene Hirten- und Hundesegen sowie ein Bienensegen.
Die Bußvorschriften des Predigers Burchard von Worms aus dem 11. Jahrhundert
implizieren, dass heidnisch-dämonische Sprüche und ‚schändliche
Zauberknoten’ verwendet wurden, um Tiere und Hunde vor Krankheit und Unfall
zu bewahren. Er schreibtvor, dass dafür zwei Jahre lang an drei vorgeschriebenen
Tagen pro Woche Buße geleistet werden musste. Der bereits in der Albrant-Handschrift
erwähnte sogenannte ‚Longinus-Segen’ (Longinus war der Lanzenträger
unter dem Kreuz Christi) stellt eine Beschwörung zur Blutstillung dar.
Eine Schweinegebet aus dem 12. Jahrhundert beschreibt, dass die Tiere
durch Verfüttern von Brotschreiben, auf die Gebete geschrieben worden waren,
vor Rotz, Rotlauf, Blutfluss und innerem Fieber geschützt werden sollten
– eine klare ‚Vereinnahmung’ heidnischer Riten durch die Kirche. Aus Spätmittelalter
und Neuzeit sind eine Vielzahl von Tier- und Feldfruchtsegen erhalten, mit denen
die Landbevölkerung ihre Tiere und ihre Ernte schützen wollten.
Aus der Hundeheilkunde des Moamin ist ein Rezept erhalten, um Hunde ‚umzufärben’: “Wenn du aber die Farben des Hundes von weiß in schwarz färben willst, nimm Kalk und Bleiglätte zu gleichen Teilen, pulverisiere und mische sie mit Honig, und damit sollen sie 30 Tage lang eingerieben werden, täglich einmal, und sie werden schwarz werden.“ Man könnte man diese Anweisungen als eine Art ‚Rosstäuscher-Trick’ ansehen, mit dem potentielle Kaufinteressenten einer Hundezucht manipuliert werden sollten. Ähnliche Rezepte zur kurzfristigen ‚Verbesserung’ von Aussehen und Temperament der Tiere sind tatsächlich auch aus den Rossarzneibüchern überliefert.
Dieser Artikel erschien
bereits in gekürzter Form in:
Hirschberg, R. M. (2011): Stallmleister und Wurmsegen - eine kleine Geschichte
der Tiermedizin. Karfunkel - Kraut und Hexe 4:18-23(ISSN 0944-2677, ISBN 978-3-935616-46-1)
Die Bilder des Codex 151, Lilienfeld sind alle entnommen von der Seite des Instituts für mittelalterliche Realienkunde (Imareal): http://tethys.imareal.oeaw.ac.at/realonline/
Quellen und weiterführende Literatur:
Richard Barber. Bestiary. Boydell Press, Woodbridge, 1999
Norbert Benecke. Der Mensch und seine Haustiere – Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung. Theiss, Stuttgart, 1994
Angela von den Driesch, Joris Peter. Geschichte der Tiermedizin – 5000 Jahre Tierheilkunde. 2. Aufl. Schattauer, 2003, S. 85-92
Friedrich Eichbaum. Grundriss der Geschichte der Thierheilkunde für Tierärzte und Studierende. Paul Parey Verlag, Berlin, 1885
Siegfried Epperlein. Bäuerliches Leben im Mittelalter – Schriftquellen und Bildzeugnisse. Böhlau, Kölln, 2003
Das Falkenbuch Friedrich II. Glanzlichter der Buchkunst, Bd. 9. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz, 2000
Hildegard von Bingen. Das Buch von den Tieren. Übersetzt und erläutert von Peter Riethe. Otto Müller Verlag, Salzburg, 1996
Jagdbuch des Mittelalters. Gaston Phoebus – Livre de la Chasse. Glanzlichter der Buchkunst, Bd. 4. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz, 2000
Lexikon des Mittelalters. Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002
Hermann Mattheis. Die Hundeheilkunde des Moamin. Dissertationsschrift, Tierärztliche Hochschule, Hannover, 1967
Frank Meier. Mensch und Tier im Mittelalter. Thorbecke Verlag, Ostfildern, 2008
Stella Panayotova. The Macclesfield Psalter. Thames & Hudson, London, 2008.
Joyce E. Salisbury. The beast within – animals in the middle ages. Routledge, London, 1994
Hans Hinrich Sambraus. Atlas der Nutztierrassen. 3. Aufl. Verlag Eugen Ulmer, 1989
Peter C. A. Schels. Mittelalterlexikon. Internetpublikation: http://u0028844496.user.hosting-agency.de/malexwiki/index.php/Hauptseite (31.08.2010)
Tacuinum sanitatis in medicina. Glanzlichter der Buchkunst, Bd. 13. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz, 2004
Von der Kunst mit Vögeln zu jagen. Das Falkenbuch Friedrich II. Kulturgeschichte und Ornithologie. Hrsg. Mamoun Fansa und Carsten Ritzau. Philipp von Zabern Verlag, 2008